Zeitreisen mit Jethro Tull: Auf dem Erfurter Petersberg zelebrierte die Band ihr 40 Jahre altes Album Aqualung. Die übliche Reminiszenz an Johann Sebastian Bach durfte nicht fehlen.
Erfurt. 1971 veröffentlichte eine junge britische Band eine LP, deren Titelheld ein schmieriger alter Bettler mit rasselndem Atem war. 40 Jahre später zählt "Aqualung" zu den Klassikern des Rock und
Ian Anderson
, weltweit einziger Rock-Held mit Querflöte, ist auch 63-jährig noch bei Wege und mit
Jethro Tull
auf Tournee.
Wer auf ein Lebenswerk zurückblickt wie seines, der kann es sich leisten, eine ganze Konzertreise rund um ein einziges Album zu konzipieren. Auf dem Petersberg in Erfurtzelebrierte
Anderson
"Aqualung" so ausgiebig, dass selbst altgediente Jethro-
Tull
-Fans darüber staunten, wie viele Titel dieser verschrobenen Platte konzerttauglich sind. Selbst eine Kinderzimmer-Schnurre wie "Mother Goose" entfaltete zu Füßen der Zitadelle Petersbergihren Folkballaden-Charme mit Jazzeinlage. Oder "Up to me", diese schräge Beziehungskiste: "Ich weiß nach all den Jahren immer noch nicht, wovon das Stück eigentlich handelt", behauptete
Anderson
grinsend.
Der Band-Chef, neben seinem ritterlich treuen Gitarristen Martin "Lancelot" Barre einziges verbliebenes
Tull
-Mitglied aus "Aqualung"-Zeiten, wechselte laufend zwischen Flöte, Gitarre und Mikrofon, unterhielt das Publikum mit selbstironischen Ansagen und sorgte dafür, dass die dick eingemummelten Fans die Kälte des Juliabends für anderthalb Stunden fast vergaßen. Wann immer
Ian Anderson
in Thüringen spielt, hat er Bachs "Bouree" im Gepäck, aber auch "Living in the Past" darf nie fehlen. Viel weiter zurück reicht die Bandgeschichte nicht, und dieser Song von 1969 lässt sich lesen wie ein Gründungsmanifest von
Jethro Tull
: Wir leben in der Vergangenheit, unsere Wurzeln reichen bis Bach. Aber glaubt bloß nichts, uns fiele dazu nichts Neues ein.
Es muss an der Begabung
Ian Andersons
liegen, mit Uraltem zu experimentieren und Noch-nie-Dagewesenes daraus zu machen, dass
Jethro Tull
niemals langweilt. Dieselbe Band, die Freunde klassischer Musik mit filigranen Flötenmelodien für sich einnimmt, gewann 1989 mit "Crest of a Knave" einen Grammy für das beste Hardrock-Metal-Album; ein Kuriosum, das
Ian Anderson
in Erfurt genüsslich erwähnte. Die Platte liefert ausufernde Rockballaden, wie ein Open-air-Konzert sie braucht; auf dem Petersberg schlug mit "Farm on the Freeway" und "Budapest" die große Stunde des Martin Barre.
Aber diese Songs sind, gemessen an der Band-Historie, junge Hüpfer. Bejubelt von den Fans in Erfurt grub
Jethro Tull
"Ihr wisst, dass wir nach einem Landwirtschaftstypen aus dem 17. Jahrhundert benannt sind?" die mehr als 30 Jahre alten "Heavy Horses" aus, einen Song zu Ehren des guten alten englischen Kaltblutpferdes. Noch so ein Thema, das dem Image einer coolen, angesagten Rockband eklatant zuwiderläuft.
Jethro Tull
reitet niemals auf einer Welle, sondern immer schön an der Küste lang, auf dem Rücken eines Kaltbluts, in Betrachtung der schäumenden Brecher. Aus den Fundstücken am Strand macht die Band ihre Musik. Und besingt, mal liebevoll, mal sarkastisch, die Außenseiter: den asthmatischen Bettler oder den ewigen Verlierer in "Locomotive Breath", der letzten Zugabe des Abends.
"Cross-eyed Mary", die schielende Hure mit dem weichen Herzen, fehlte. Auch sie bewohnt seit 40 Jahren das Album "Aqualung" und hätte unbedingt in den Zugabenblock gehört. Das Konzert war zu kurz. Aber, wie immer bei
Jethro Tull
: schön.
Frauke Adrians / 01.08.11 / TA
BILDER AUS DER 1. REIHE ......war das ein klasse Konzert
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